Ich liebe Werbung. Werbung verrät uns mehr über die Zeit in der wir leben, über Menschen, über Realitäten, als jede Nachrichtensendung, Psychologiestunde oder Philosophieunterricht. Werbung ist die Aufschlüsselung des Seins. Heutiges Beispiel: Eine Coachin auf Instagram, die “das richtige Leben für Dich” verkauft.
Das mittelmäßige Leben, fragt sie, ist es denn nicht erstrebenswert? Und sie erzählt, wie die 42j. Frau (natürlich nicht ZU alt), nennen wir sie Sabine, auf der Couch sitzt und: Nicht(s) strebt. Sie hat ihr kleines Leben, sie liest gerne, fährt immer an die Nordsee in den Urlaub, wo man sie kennt, sie hat einen Bürojob und zwei Kinder. Ab und an ein Glas Wein, lange Spaziergänge, Alltag und wenig Aufregung. Sie will weder abnehmen und knackiger sein, noch will sie die Welt retten, noch hat sie den Ehrgeiz, aus ihren Kindern alles rauszuholen. [sollte ich wortwörtlich zitieren, ist es Zufall, die Werbeanzeige habe ich nicht wieder gefunden…]
Ihre Mittelmäßigkeit ist ihr bewusst und sie findet das super: Es ist das Leben, das sie will. Und es ist das Leben, das zu ihr passt.
Okay, so weit so gut. Ich finde Mittelmäßigkeit persönlich großartig und strebe es an.
Kommen wir zum eigentlichen Punkt: Hier wird ein absolut privilegiertes Leben beschrieben. Es ist nicht mittelmäßig, sondern absolut privilegiert: Alle sind gesund. Sie sitzt in einem Haus. Sie hat keinen Scheißjob. Die Familie kann sich Urlaub an der Nordsee leisten. Rassismus und Diskriminierung kennt sie nicht. Es mangelt an nichts, und mangelnder Ehrgeiz kann niemanden vorgeworfen werden. Würden alle Menschen so leben wollen, gäbe es keinen Krieg.
Was damit allerdings ebenfalls beschrieben wird, ist eine Art, mit Verlaub gesagt, ignoranter Egoismus, denn die Außenwelt kommt nicht vor. Sabine scheint in einer Blase zu leben, die ohne Menschen, Verantwortung und soziale Reibung auskommt. Für viele sicherlich erstrebenswert! Nicht umsonst sagen manche sarkastisch: Ich hasse Menschen.
Sabine kann man nichts verkaufen. Die Intention der Coachin allerdings ist aber, etwas zu verkaufen, und diese Mittelmäßigkeit, als Gegenteil zur Selbst-Optimierungs und Selbstliebewahn, Ehrgeiz etc, wird hochgehalten. Die anschließende Frage läßt Dich sofort den KAUFEN Knopf drücken: Lebst Du auch das mittelmäßige Leben wie Sabine – beziehungsweise ein Leben, das zu Dir passt? Und zack, hat sie die Leute am Haken.
Gut ist gut genug – das finde ich ein tolles Konzept.
Praktischerweise wird in dieser Werbung übersehen, dass das Leben nie so ist. Ich kenne absolut niemanden, und ich kenne viele Menschen, sagen wir mal so, wo alle diese Dinge gegeben sind und die ein mittelmäßiges Leben führen, inklusive mir. Ein Blick hinter den Kulissen, und mir bleibt selten was verborgen, und schon existiert diese Mittelmäßigkeit nicht. Gesundheit, Geld, neurodiverse Kinder/keine Kinder, Scheißjobs, Scheißverwandschaft, Scheißpartnerschaft/Einsamkeit, – das sind alles Baustellen, die es überall gibt. Das zu einem passende Leben auszuwählen bedeutet, diese Probleme alle nicht zu haben oder sie komplett zu ignorieren. Kann eine Coachin das alles lösen? Nein. Ehrlich gesagt ist mir egal, was sie wem verkauft, ich finde es nur niedlich, dass es scheinbar funktioniert. Und sehr viele Frauen(!!!) kommentierten darunter und sagten, ja, ich lebe so und ich finde das geil.
Nun ist das nicht unbedingt eine Zustimmung der Frauen für Mittelmäßigkeit, sondern eine radikale Entscheidung für sich selbst, sich aus gesellschaftlichem Druck zu befreien. Und der fällt auf Frauen sehr viel breiter und subtiler und auch: durchgehender. Jederzeit und in jedem Lebensbereich.
Aber nun gibt es ja das für Dich passende Leben! Finde es! Die Coachin täte gut daran, psychologisch ausgebildet zu sein und lediglich als Spiegel zu fungieren. Ich weiß nicht, wie man sonst jemanden “ein passendes Leben” findet. Denn das kann man nur selbst und es ist ein Prozess, der bestenfalls begleitet werden sollte, aber niemals beeinflusst. Sicherlich tut sie auch genau das, und zur Werbung: Nun ja, Werbung ist Werbung. Sie wird sicherlich vielen Menschen helfen, fertig. Zurück zu Sabine.
Sabine und die anderen haben also ihre Privilegien und ihre Mitelmäßigkeit. Möchte noch einmal betonen, dass “Mittelmäßigkeit” als Begriff absolut fehlt am Platze ist, wir reden nicht über den Mangel an Ehrgeiz, sondern den Mangel an Sorgen!!
Und was ist mit den anderen Frauen, die nicht Sabine heißen? Es muss sie ja geben, die Ehrgeiz zerfressenen Hexen, die CEO Posten anstreben oder die Weltherrschaft an sich reißen wollen, oder aber nur die geilste Frau im Fußballverein sein wollen. Alles Hexen und Emanzen. Ehrgeiz zerfressen. Mittelmäßigkeit reicht ihnen nicht, nein nein.
Sarkasmus beiseite, ein Leben voller Privilegien zu führen, überhaupt ein Leben zu führen, bringt eine gewisse Verantwortung mit sich. Und es bringt immer ein Streben mit sich, wenn man nicht komplett ignorant ist. Der Mensch strebt und der Mensch ist ein soziales Wesen. Selbst das Streben nach Mittelmäßigkeit, also nach dem “gut ist gut genug” ist ja schon ein Streben, das passende Leben zu haben ebenfalls. Der Sinn des Lebens? Der Prozeß der Durch-Lebens. Sich durchwurschteln ist der Sinn des Lebens – aber manche Nicht-Sabine haben vielleicht tatsächlich mehr vor. Ohne diese “Hexen” hätten wir weder Weltraumfahrt, Handys, Röntgen, Kunst, Literatur, Waschmaschinen meine läuft gerade…) noch Bluetoothkopfhörer, die wir im Selbstoptimierungsprozeß namens Sport zur Bespassung tragen. Keine Personalabrechnung mit SAP LOL. Ohne Nicht-Sabine gäbe es keine Nachbarschaftshilfe, keinen Kuchen beim Fußballverein, und kein Personal im Krankenhaus.
Die intrinsische Motivation, mehr als nur mittelmäßig zu sein, egal was und worin, ist einfach da. Vielleicht ist Sabine einfach depressiv und hat kein Bock mehr? Das fände ich eine logische Konsequenz des Lebens als Frau. Vielleicht ist sie tatsächlich rundum zufrieden. Wir wissen es nicht, denn Sabine ist offensichtlich fiktional. Oder Sabine verliebt sich demnächst in den Nachbarn, ja, da haben wir den Salat. Das Hotel an der Nordsee schließt, oder eines der Kinder fängt an zu kiffen und outet sich als non-binär – und das in dem kleinen Dorf! Alles fatale Dinge, die dieses privilegierte Leben PUFF auflösen.
Die Hexen sind alle unter uns, sorry Sabine. Jedes Leben, sei es noch so mittelmäßig, hat Potential, das allerdings nicht jeder nutzen muss.
Und, hast Du das Leben, das zu Dir passt? Wusstest Du denn das schon immer? Dann brauchst Du ja die Coachin nicht zu googeln.
Hast Du das Leben nicht? Dann bist Du eigentlich GENAU RICHTIG. Denn stell Dir vor, Du würdest da in Deinem optimierten Glück sitzen. WTF. Was würdest Du tun? Was würdest Du tun, wenn alles gut wäre? Diese Frage ist eine gähnende Bedrohung für viele, denn die Komfortzone hat man sich mühsam aufgebaut und sie zu verlassen ist nicht unbedingt schön und auch nicht immer ratsam. Lebst Du das richtige leben für Dich? Natürlich nicht!
Natürlich nicht!!
Und das ist auch gut so!!!
Wer will denn Mittelmäßigkeit? Wollen wir nicht ein Hollywood-Star sein? Oder zumindest reich? Oder den Welthunger beenden? Die Klimakrise? Frieden auf der gesamten Erde? Menschenrechte und Gerechtigkeit? Den latent pädophilen Sportlehrer aus dem Beruf kicken? Wollen wir denn nicht – wollen?
Denn ganz ehrlich, führt man diese Mittelmäßigkeit konsequent als Konstrukt zu Ende: Wer so eine Mittelmäßigkeit will, so wie Sabine in ihrem Kokon, entscheidet sich ab einem gewissen Punkt für Egoismus und Ignoranz. Alles soll so bleiben, wie es ist. Irgendwann heißt es: Die Hexen sollen brennen. Da wird Sabine sagen: Interessiert mich nicht, Hauptsache der Rauch stört mich nicht. Es gibt eine große Bandbreite zwischen “gut leben”, Mittelmäßigkeit und “alle Ausländer raus” aber sind wir ehrlich, wessen Werte “ich und mein Privileg” lauten, hat keine. Aber zurück zum richtigen Leben für Dich.
Was würde ich denn da tun? Werte definieren. Was ist mir persönlich wichtig, was ist skalierbar und wohin es skalierbar ist. Gut ist übrigens immer noch eine gute Sache! Gut sein, Gutes tun, gut leben. Und ja, die Coachin hat nicht unrecht, jede*m das eigene “gut”. Gut als Adjektiv oder Adverb, wohlgemerkt. Aber kein singuläres “gut” wird funktionieren, denn wir können nur gut sein im Verhältnis, somit auch im Verhältnis zum Anderen (Bissi Derrida gefällig?). Wenn mir Menschen erschießen gut tut, werde ich mir nichts Gutes tun können. Manche mobben dann, und wundern sich warum sie keiner mag. Arschloch zu anderen sein, kann also kein “gut” sein. Wir können nicht für uns alleine entscheiden. Was wir können, ist allerdings das Privileg wahrnehmen und es nutzen. Sabine, Du hast ein geiles Leben, gönn Dir. Aber wenn es mal hart auf hart kommt, entscheide Dich nicht nur für das kleine Bild, sondern auch für das größere.
UND:Wir übersehen in diesem “ich”, “mein Leben”, dass viele kleine Dinge bereits dieses “gut” ausmachen. Gut sein. Nicht superduper. Kein Zwang, kein Perfektionismus, nicht mal eine durchgehende Erfüllung dieses “gut seins”, denn auch doof sein gehört dazu. Das Streben, gut zu sein, reicht schon. Und wir verkennen es zu oft. Würden wir dann noch so viel konsumieren? Eher nicht… würden wir nach Wachstum streben? Ist da etwa ein Widerspruch?! Nein, es ist eine Frage nach dem Maß. Gut ist als Wert auch eine Bandbreite, wenn man ehrlich ist, also werden wir immer etwas anstreben, ein gutes oder besseres “gut”.
Was mich persönlich betrifft allerdings… ich bin eine Hexe.