Deutschland, gottverlassen – Gesichter der Armut

Die Badezimmertür schließt nicht richtig. Das macht irgendwie nichts, denn das Fenster ist zum Teil auch schon nicht mehr da. Die Heizung bullert direkt nach draußen, dafür mit ordentlich Kraft, ein Monstrum, das kochend heiß wird. Wenn die Nachbarn durch das Treppenhaus laufen, hört es sich an wie die Reiter der Apokalypse, dabei sind es nur zwei kleine Mädchen, die dem Hausflur durch die kaputte, knarrende stockende Tür entschwinden. Dort ist ein Zettel angebracht, auf dem steht: Bitte die Tür schließen. Die schließt nämlich nicht automatisch. Wer will den hier auch etwas stehlen, denke ich kurz verwundert. Dafür müsste man eh nicht mal durch die Tür.
Das riesige Haus, das hier vor sich hin verrottet, ist vermietet. Es verottet vor sich hin, das Grundstück ist sehr viel wert, bis dahin lässt man alles verfallen und kassiert trotzdem ab. Es wohnen unter anderem eine Familie geflüchteter Menschen hier. Deren kleines, günstiges Auto parkt auf dem Hof. Hier kann man nirgendwohin ohne Auto, es ist landschaftlich schön, dafür immens trostlos. Eine Buslinie fährt hier vorbei, immerhin.
Ein Dorf in Niedersachsen… Das Gesicht einer anderen Armut, als ich als Emigrantin in Hamburg schon selbst kennen gelernt habe. Armut ist frieren und trotzdem eine hohe Rechnung bekommen, die man nicht bezahlen kann, und die ermattende Angst im Supermarkt, dass man sich vertan hat beim Preisschild und der Einkauf eigentlich nicht mehr drin ist, wegen zwei Euro. Die Angst. Immer Angst haben. Ja, das kenne ich, aber es ist nicht das einzige Gesicht von Armut.

Was passiert eigentlich, wenn Du vor einem Krieg fliehst und Du in so einer gottverlassenen Ecke Deutschlands landest? Es ist grau und kalt, und der Mensch, der an der Straße auf Abholung durch ein Auto wartet, sieht selbst grau aus und ist sichtlich durchgefroren, trotz Winterjacke. Es sind gut über zehn Grad, aber es ist das Klamme und das Hoffnungslose, was einem durch die Knochen geht, wenn man hier ist. Das fehlende Licht, die fehlende Ablenkung im Alltag, die nicht vorhandenen Lichtmomente außerhalb der blanken Existenz. Und auch wenn wir alle froh sind um diese blanke Existenz, wir, die geflüchtet sind, es ist so wenig, was für einen die Zukunft bereit hält, wenn man hier gelandet ist. Im ländlichen Nichts. Wo hier die Ansässigen schon keine Perspektive haben: In einem Sattelitendörfchen für Pendler. Es gibt hier: Eine sogenannte “Arbeiterkneipe”. Kindergarten, Grundschule. Ein Sportverein. Feuerwehr. Das war’s. Kein Buchladen, keine öffentliche Bibliothek, keinerlei Zugriff auf Kultur. Wenn Amazon hierhin nicht liefern würde, wäre man verdammt verloren, und auch dafür braucht man etwas Spielgeld.
Stell Dir also vor, Du bis in einem Land mit einer völlig fremden Kultur, die Du nur aus den Fernsehen kennst und man will Dich hier aber auch schon wieder verbrennen. Hurra. Und Du hast nicht einmal groß die Möglichkeit, Dir diese neue Kultur anzueignen, weil sie fehlt.
Weil sie allen fehlt, weil die hier isolierten Menschen genauso kleine Arbeitsdrohnen seien sollen, wie Du nun einer bist, aber Dich noch unterhalb dieser Arbeitsdrohnen einfügen sollst, damit sich die Menschen, die hier abgehängt wurden, dennoch ein wenig besser fühlen können. Nachdem die Niedersachsen gewählt haben, kam die noAFD mit 9 Prozent in den Landtag rein. Und wen wundert es: Die Plakate, fuhr man ein wenig weiter ins ländliche Raum rein, waren überall. Wer hat denn die noAFD gewählt?
Es sind keine schlechten Menschen. Es sind keine bösen Menschen. Es sind oft verängstigte und isolierte Menschen. Sie wurden lediglich am falschen Ort geboren, in einem “außerhalb”, und man gab ihnen: Nichts. Ein bisschen Schule, etwas Ausbildung, wer Glück hat, hat sich rechtzeitig abgesetzt, manch einer hat geerbt und in seinem Häuschen verschanzt, und geht einem stupiden Job nach. Ein wenig mehr als Nichts, aber zu wenig für Geist und Seele.

Der Begriff der Armut ist immer konnotiert mit Geld. Oh, das ist so grundlegend unzureichend! Armut ist so viel härter, böser und weitreichender, und es ist diese Art von Armut, die eine noAFD auftrumpfen lässt. Geistige Armut, kulturelle Armut.

Was ist eigentlich Armut?

Es ist in erster Linie Chancenlosigkeit. MANGEL AN BILDUNG. Es ist die Armut, die geistigen Ursprungs ist und denen, die weniger zufrieden sind und mehr Futter brauche, keine Chance einräumt. Keine Möglichkeit. Das Internet, sagt Ihr?! Ja, es ist mittlerweile eine Chance, aber die muss man auch lernen zu nutzen. Medienkompetenz ist keine göttliche Gabe, sie muss gelehrt werden, und wir wissen mittlerweile, wie schlecht das gehandhabt wird.

Armut ist nicht nur das fehlende Geld für ein Ballett-Ticket – es ist die fehlende Vorstellung, dass es so etwas wie Ballett gibt. Das es etwas ist, was man erleben darf und sollte. Die Isolation.

Die Kälte und das Grau ist jeden Abend da, es zieht sich wie kalter Rauch in den Feierabend nach den 12 Stunden, die man unterwegs war. Rauchen, Alkohol, das vermeintlich wärmende Flirren des Fernsehers oder des Handydisplays werden zum Fluchten aus dem Alltag. Die schlechten Witz und Memes, die man sich schickt, ein Lachen aus verstopfter Kehle.
Und eigentlich geht es uns allen gut, na ja, es geht doch schlechter?! und es muss ja nicht jeder studieren, wer macht denn sonst die “Drecksarbeit”, – aber warum ist es Drecksarbeit die Straße zu reparieren oder Menschen zu pflegen? Weil es schlecht bezahlt wird. Weil auch jemand, der vielleicht in dem Mensa e.V. Club wäre und nun Teerflicken zusammen presst, genau dort sein muss, wo ihn die Geografie hin gepflanzt hat.

Die Isolation.

Armut ist Isolation durch fehlende Infrastruktur und fehlender Zugang zu Bildung und Kultur. Und dieses ist in der Stadt vielleicht doch einfacher zu ertragen. Weil Du im Theater einen Putzjob bekommen kannst und dort dann nicht rausgeworfen wirst, wenn du heimlich hinten in der Ecke die Vorstellung schaust oder bei der Probe zuguckst. Armut macht unsichtbar, und manchmal kann man das nutzen. Du kannst schwarz fahren, auch wenn du damit riskierst in den Knast zu kommen,- du kommst zumindest irgendwohin, irgendwie weg. Deine Schule hat vielleicht ein Klavier, und auch wenn Du niemals Unterricht haben wirst, Du kannst drauf klimpern und träumen. Und Du kannst dich anstrengen und es vielleicht ein bisschen weiter schaffen, als nur bis zum Ende der Straße zu ziehen. Und auch wenn das Mythos der Anstrengung und des “es sich verdient haben” zu 99% Bullshit sind, es gibt zumindest eine Chance, dass Dir nicht die komplette Zukunft verbaut wird, weil Du aus dem falschen Ort oder Viertel kommst. Schwindend gering, aber es gibt sie. Mancher Orts gibt es gar nicht erst ein Absprungbrett.

…mancher Orts sind sehr viele Orte. Laut Statista leben 77% der Deutschen in Ballungsräumen. Aber was “ballt” sich da zusammen? Warum habe ich das Gefühl in einer so wohlhabenden Stadt wie Lüneburg, das über 80k Einwohner*innen hat und ein Theater, an Kulturlosigkeit zu ersticken?? Weil die Armut auch wieder eine kulturelle ist, auch in diesem reichen Vorort von Hamburg. Es gibt zwar Ausländer*innen, aber sie sind nicht in der Stadt sichtbar oder repräsentiert. Die Zeitung ist weiß und deutsch, die Verwaltung ist weiß und deutsch, und so ist die deutsche Gesellschaft schon seit 70 Jahren nicht mehr. Ich bin der Beweis dafür, ich bin stolz, Rumänin zu sein, aber so deutsch, meine Ablage ist alphabetisch sortiert.

Die Mädchen, die hier durch die Gegend springen, sie sind ich. Sie kennen nur dieses Haus, diesen Landstrich, vorerst; weil sie irgendwo in Deutschland Verwandtschaft haben, wie ich rausfand, werden sie rumkommen, rauskommen, und vielleicht entscheiden können, das verrottete Haus gegen einem Studi-Wohnheim einzutauschen. Sie werden alle Formulare bewältigen, weil sie es schon so früh für und mit ihren Eltern tun mussten; sie werden ihren Eltern den Lebensabend finanzieren. Sie werden die Gratwanderung zwischen Anderssein und Hiersein bewältigen. Sie werden nie wirklich arm sein, weil sie durch zwei oder drei Kulturen so viel reicher sind, als das, was Geld einem kaufen kann, die Angst vor dem Fremden aber einem diesen Reichtum wieder weg nimmt. Das ist keine Romantisierung von finanzieller Armut. Sie werden es hoffentlich ein bisschen besser haben.

Wieviel Bewegung hat ein 9-Euro Ticket in das Land gebracht, da bekommt man… Angst. Als die Isolation weg fiel. Hat man ganz schnell wieder eingestellt. Schulen einheitlich machen, gleiche Chance für alle? Indiskutabel in Deutschland. Immerhin kann man ab der 5. Klasse die Form frei wählen. Ist das ein Aufweichen? Ich weiß nicht. Nur 1 Prozent der sogenannten Arbeiterklassekinder schaffen es zur Promotion. Meritokratie? Da kann man nur lachen. Und jedes Beispiel, das ich gegen die vielen Facetten von Armut gegenhalten würde, hätte immer den Ursprung in diesen zwei Dingen: Bildung und Mobilität.

Armut soll aber weit weg bleiben von uns, die sich zwischen 0.8 Karat und einem 1Karäter zu Weihnachten entscheiden wollen.
Armut ist nämlich ein Wechselspiel zwischen mir und dem anderen, Angst voreinander, Isolation voneinander. Es ist ein Perpetuum Mobile des Klassismus und der Ungerechtigkeit, befeuert durch eine schlechte Umverteilung und der Angst vor dem endgültigen Abstieg.
Zwanzig Prozent der Menschen hier sind armutsgefährdet. Das ist eine offizielle Statistik; es sind sehr wahrscheinlich sehr viel mehr.

Bewegt sich Deutschlands Struktur zum Besseren? Wie lange dauert es noch?

Cancel Culture existiert nicht

Okay, ich sage Euch mal, wenn ich alles canceln würde und warum, und dann stellt Ihr fest, ES GIBT KEINE Kultur des Abkanzelns. Die Auswahl ist auf die Branche der Oberflächlichkeit bezogen, und ihr kennt alle Namen, deswegen nehme ich mir nur ein paar aktuelle Beispiele zur Brust, weil die Liste und vor allem die Namen mir die Kotze in den Mund hochtreiben lassen.

Johnny Depp.
Alessandro Michele von GUCCI, der sich permanent mit Jared Leto, einem branchenbekannten Pädophilen, zeigt.
Jared Leto, siehe oben.
Alexander Wang, der Leute unter Drogen und Alkohol setzt.
Chris Brown, der Rihanna geschlagen hat und verurteilt wurde.
Nick Carter.
Prince Andrew.
Jeder im Umfeld Epstein und Maxwell.
Woody Allen, der immer noch Filme dreht.
Trump, Weinstein, so ziemlich jeder deutsche Regisseur und Bühnenmacher, nur dass sie so gut wie nie namentlich genannt werden, habe ich sogar aus dem persönlichen Umfeld erfahren; Luke Mockridge und ja, er ist noch im Fernsehen.

Wenn man “deutsche Stars denen sexuelle Belästigung vorgeworfen wird” bei Google eingibt, kommt nix. Das englische Pendant hingegen spuckt Listen aus und Beiträge von seriösen Medien, es gibt Verurteilungen (wenige), und auch diese Männer sind immer noch medial präsent und erfolgreich. Ein Gegenbeispiel: Eine junge deutsche Prominente, die quasi vor laufender Kamera vergewaltigt wurde, und bei der es hieß, selbst schuld. Amber Heard, die ihre gut dotierte Filmrolle verlor, nachdem sie sich als Opfer häuslicher Gewalt bekannte.

Es gibt natürlich auch viele medial präsente Menschen, die Schwachsinn von sich geben, und dennoch immer wieder in Talk-Shows sitzen und Buchverträge bekommen. Precht und alle seinesgleichen, und dabei sind es zu 80% Männer. Nicht weil es nicht auch ignorante Frauen gibt, sondern weil Frauen grundsätzlich nicht präsent sind. Hat den Vorteil, dass Doofheit weiblicher Nuance zwar stärker auffällt, aber auch öfter mal nicht auffällt. Sara Wagenknecht ist so ein Beispiel.

Tatsächlich habe ich diese Tage auf Twitter eine kleine Zusammenfassung eines amerikanischen, leitenden Journalisten gelesen, der sich zur unglaublich grausigen Sache mit Vergewaltigung und Handel von Kindern in Hollywood beschäftigt hat (alle wussten es, so seine Aussage). Er schreibt, er sei unglaublich traumatisiert und könne 80% der Dinge trotz Beweise und Dokumentation ohnehin nicht veröffentlichen. Seine Position sei nicht mächtig genug und man würde ihn im Nu fertig machen – nicht nur beruflich. Die Mittäterin wurde zu 20jahren Haftstrafe verurteilt. Übrigens spannend, dass auch der Anwalt von Depp dahin Beziehungen unterhielt, und der wiederum ist mit der Kosmetik-Produzentin Barbara Sturm verheiratet, die wiederum ihre Produkte durch ihren Hollywood Zirkel bewerben lässt. Geld stinkt scheinbar nicht genug, egal womit und mit wem es verdient wird.

Cancel Culture ist somit ein Begriff, der erfunden wurde, um aufschwellende Diskussionen von vornherein zu vereiteln. Wobei das recherchierte Fakten sind, und kein Anschuldigungen.

Shoutout an die Journalist*innen, die sich das antun!

Abgöttisch hassen

…gerade bei Twitter gelesen “welches Lebensmittel man abgöttisch hassen würde” und ich war so schnell am Tippen, das glaubt mir keiner!

Ich hasse Ziegenkäse. Gegessen das erste und letzte Mal auf einer Juristen Party in einer 200qm Altbau-WG in Eppendorf *eyesroll*. Da stand dieser schöne weiße Käse, tückischerweise auch so nett drapiert, in der Küche und ich biss nichtsahnend in das feste weiße Stück rein… so schnell hing ich nie über der Spüle, auch wenn es wirklich unhöflich ist, und während die halbe Küche versuchte sich zu erinnern wie der Heimlich-Griff ging, schnappte ich mir die nächstbeste Flasche harten Alkohol – es war Wodka! und spülte. Der Geschmack verfolgt mich bis heute noch, einfach furchtbar. Nun wusste ich ja gar nicht was das ist, also musste ich auch noch peinlicherweise erfragen, was sich hinter diesem tödlichen Lebensmittel verbarg. Scheinbar war ich trotz einigen Ausflügen in Sterne-Restaurants bislang verschont geblieben. Diese Delikatesse ist eine der wenigen Dingen, die mir gestohlen bleiben kann, genau wie Austern, Schnecken und Lammfleisch.

Abgöttisch lieben oder abgrundtief hassen – wenn beides sich vermischt, dann ist es fast schon Beweis für ADHS, also jemand der so schnell denkt, dass solche Redewendungen durcheinander kommen. Passiert mir ständig. Ich hasse abgöttisch dieses wunderschöne Wetter da draußen, das mich derzeit absolut krank macht. Natürlich möchte ich raus, Sonne, Licht, das Grün! aber genau das bringt mich um. So sitze ich in meiner Bude mit Schüttelfrost, arbeite eine Stunde, ruhe mich sechs aus, und mache wieder etwas, on repeat. Es ist effizienter als zwei Tage durchkrachen und anschließend drei sterben, insofern siegt Kontinuität über Genius, wir haben es alle befürchtet.

Ich liebe abgöttisch… Seide, Kaschmir, Buchstaben.
Ich hasse abgrundtief Polyacryl, Watte, glänzende Reissverschlüsse an Hosen.
Abgöttisch hassen tue ich Chips, Männer, Computer, lauter Dinge die theoretisch was Gutes sein könnten, aber es am Ende leider nicht sind.

Level Up – Weiterentwicklung ist ein Prozess nach vorne

Die Überschrift klingt eigentlich total einleuchtend, oder?
Der Mensch trifft aufgrund vergangener Erfahrungen Entscheidungen für die Zukunft. Rückschlüsse für Beschlüsse.

Schön wär’s!

Ich nehme mich da nicht aus, und fairerweise sollte ich dann auch hier von mir erzählen, als exemplarisches Beispiel. Mein altes Ich war immer “irgendwie”, wenn ich ehrlich bin. Ja, man hat mir Intellekt und Stil zugesprochen, aber ich wusste gar nicht, wer ich bin, weil ich durchs Leben raste, und das ist ganz normal. Sämtliche tiefer gehende Einschnitte im Leben trug ich auch nach außen, stilistisch insbesondere, und nur mein guter Geschmack (wenn auch unsicherer Geschmack) rettete mich davor, wie eine teure Version einer Altkleider-Sammlung herumzulaufen, sprich zusammengewürfelt und unpassend. Weiterlesen…

Generational Gap – Digitalisierung und Mental Load

Nach einem längeren Gespräch mit einer Kundin kamen wir gemeinsam auf das Thema Nr. 1 für Frauen und insbesondere Mütter zu sprechen: Mental Load.

Davor hatten wir noch die Generation unserer Mütter am Wickel, die gar nicht verstehen können, warum wir so gestresst sind mit den ganzen Dingen, die heute viel bequemer geworden sind. Stimmt, die Waschmaschine muss nicht mehr von Hand das Wasser ausgewechselt bekommen und der Geschirrspüler ist auch eine geniale Frauenerfindung, aber: Wir haben einen ganz anderen Alltag, gerade durch die immensen technischen Fortschritte, jedoch dadurch wesentlich mehr Mental Load. Und was soll ich sagen, ich rede über Großmütter, die 60 und aufwärts sind, also noch relativ jung; die Generation der Boomer hat die Digitalisierung mitbekommen und sich mühsam damit zurecht gefunden, das will ich nicht leugnen. Doch das sind auch die, die diesen Teil häufig in geringerer Auslastung im Alltag erleben. Und eh schon im Rente ist.

Unsereiner bekommt mehr Informationen, muss mehr entscheiden, muss mehr Wissen ansammeln um dann erst entscheiden zu können. Wenige Menschen haben das Privileg zu sagen, ich löse dieses Problem in dem ich Geld drauf schmeiße. Wer hat nicht stundenlang Angebote fürs Handy verglichen? Wer führt den Terminkalender für mehrere Personen?
Es wird auch durch viele digitalisierte Dienste der Mental Load auf die Kund*innen übertragen. Deswegen sind viele Branchen hinterher, solche Prozesse einzuführen, weil sie Personal an der Dienstleistungsfront sparen. Leider sparen sie die schon im technischen Bereich, im Backend und in der Entwicklung, weshalb viele miese Dinge auf dem Markt sind, wo man dann doch genervt den Customer Service anrufen muss, um “mit einem Menschen zu sprechen”.

Mein digital durchgeführtes Styling wird mehr Arbeit für meine Kundin bedeuten. Das ist eigentlich nicht fair, denn sie kauft eine Dienstleistung ein, die ihr Sachen abnimmt, und zwar am besten sofort. ICH miste aus, ICH stecke ab, ICH sortiere – das muss sie nun selbst machen, statt aus dem Sessel mit einem Drink in der Hand mich bei der Arbeit zu entertainen.
Dafür habe ich natürlich einen Ausgleich für sie.

Hat das auch meine Bank? Mein Mobilfunkanbieter? Meine Krankenkasse? Letztere koppelt beide Dienstleistungen sehr gut, da kann ich mich nicht beschweren, in der Regel wird jedoch die Arbeit weg delegiert und der Mental Load, der ja unsichtbar ist, wächst. Bei Männern wie bei Frauen, nur dass Frauen seit jeher der Mental Load auch im Job, und nicht nur Zuhause in die Schuhe geschoben wird. Ja, es ist der härtere Job, Sekretärin zu sein, aber das wird weder bezahlt noch gewertschätzt.

Und woher kommt das eigentlich? Wieso sind keine Dinge erfunden worden, die Mental Load minimieren? Immerhin hat uns die industrielle Revolution Maschinen gebracht, die physische Arbeit abnehmen. Die digitale Revolution hingegen, die stattfindet, hat uns rein gar nicht eingebracht bislang, und ich meine, es ist zu offensichtlich warum. Höher, schneller, weiter – Mehr RAM, weniger Benutzungsfreundlichkeit. Vollpfosten wie Elon Musk beherrschen die Szene, während Timnit Gebru überhaupt erst intersektionales Denken zu den Technolog*innen bringen muss.

Wo sind die Dinge, die Mental Load minimieren? Wo sind Lösungen, die die angeblich allmächtige KI uns bringt? Es gibt sie, aber inwiefern haben sie außerhalb spezieller Felder einen Eingang in den Alltag gefunden, der uns HILFT? Wo sind die smarten Lösungen, die Mental Load antizipieren? Und wo sind die Menschen, und es müssen keine Frauen sein, die solche Konzepte überhaupt erdenken?