“Weil ich es mir wert bin.”
Damit verkauft man alles. Immer mit Angst: Wirst Du XY sein/erreichen, wenn Du nicht XY hast/kaufst/bist?? und natürlich mit der großartigen, leisen kleinen Peitsche der letzten Jahrtausende, der Kirche, des Patriarchats, des Wirtschaftssystems, der Scham. Bist Du Dir XY nicht wert?! Schäm Dich!
Beschämt werden fürs nicht gut genug sein, für nicht “mehr wollen”, für deine Wünsche, für dein Dasein, für dein Tun, für dein Äußeres, für dein Inneres:
Sag mir, dass Du eine Frau bist, ohne mir zu sagen, dass Du eine Frau bist.
Viele Dinge, die ich von Frauen gelesen habe, die älter sind als ich, und viele Dinge die ich lese von Frauen, die ganz anders leben als ich, drehen sich um Schamlosigkeit*.
Schamlosigkeit ist das einzige Instrument, das ich bezeugen kann, immer und in allen Situationen zu funktionieren. Gerade für uns Frauen! Und doch sind wir genau damit aufgewachsen, beschämt zu werden. Für Beinbehaarung, für zu lautes Sprechen, für den Partner, für existentielle Bedürfnisse “Willst Du das wirklich noch alles essen?” Die Schamlosen unter uns hingegen machen es richtig und haben es gut. Natürlich darf Schamlosigkeit nicht zum Mobbing werden (tut es leider aber oft), und das Ausbeuten anderer Personen durch die inhärente Schamlosigkeit des Kapitalismus ist auch nicht schön. Das ist dann der sehr schmale Grat zur Dreistigkeit und wird von der Sorte Mensch verwendet, die man genuin als Arschloch oder Psychopath*in bezeichnet. Stets lächelnd und freundlich laufen diese Personen häufig unerkannt in unserem Umfeld unterwegs. Und häufig sagt man über diese Leute “Ich kann es kaum glauben, dass…”, weil aufgrund unserer Moralvorstellungen und auch anerzogenen Scham manche Geschehnisse außerhalb unseren Horizontes bleiben.
Deshalb – eine Abgrenzung für den Begriff der Schamlosigkeit ist notwendig.
Schamlosigkeit ist eine Errungenschaft der Erfahrung und des Alters, mag man denken, ich denke jedoch, dass sie viel mehr mit Erziehung zu tun hat. Und wir erziehen nun mal unterschiedlich und wurden vor allem auch so erzogen. Mädchen sollen nicht mit gespreizten Beinen sitzen, Jungs werden beschämt, wenn sie… ach so, gar nicht. Die werden nicht beschämt. Und jetzt muss man sich vorstellen, eine trans Person zu sein, die weder in Schema X noch Y hinein passt, die wird wahrlich für ihre genuine Existenz beschämt. Das nimmt Züge an, die solche Menschen in den Selbstmord treiben. Das ist die traurige Kehrseite des nicht schamlos sein können.
Die Scham als Marketinginstrument funktioniert so: Schäm dich, und schäm dich… auch für das Schämen!!
Beim Arzt/Physio/… wird die manchmal nicht sinnvolle, private Zusatznummer angeboten mit: Das sollten Sie sich wert sein. Japp, das bin ich mir wert. Ich bin mir auch den 70 Euro Lippenstift wert, aber halt! SCHÄM DICH!! Du brauchst keinen Lippenstift! Schäm Dich! Das ist eitel und verwerflich und kapitalistisch und konsumatorisch und das Geld wäre als Spende besser aufgehoben. Ja, was denn nun??
Und denk dran, mit dem 70 Euro Lippenstift: DU BRAUCHST DAS DRUMRUM! Ach so, das heißt ich brauche nicht nur den Lippenstift, sondern auch das Gesicht dazu, jung und schön, die passende Handtasche und den passenden Körper. Obwohl nein, ich schäme mich jetzt neuerdings einer Norm dazugehören zu wollen, denn Schamlosigkeit ist jetzt in!
Aber nur, wenn sie schön innerhalb der patriarchalischen Grenzen bleibt: Schön, jung, gesund, Mehrwert schaffend (ein Euphemismus für “Geld scheffelnd”)
Scheffeln insbesondere Frauen Geld außerhalb des Systems, zum Beispiel durch Sexarbeit, oder sind übermäßig erfolgreich IM System, ist es gängig, ihnen ihre Schamlosigkeit dort vorzuhalten, wo sie vermeintliche Defizite aufweisen. Kinderlos und hässlich – das sind die beliebtesten Motive.
Und: Einer erfolgreichen, schamlosen Frau(sic) werden die moralinsauren Mitmenschen zu Leibe rücken. Diese halten sich für besonders dazu ermächtigt, ihre Wertvorstellungen anderen aufzustempeln. Dabei scheitern sie in Wirklichkeit selbst: Nehmen wir als plakatives Beispiel die katholische Kirche und das Zölibat. Es gibt unzählige heimliche Familien und unzählige sexuelle Übergriffe. Die Scham, die aus der unterdrückten Lust entsteht, führt dazu, dass Moralvorstellungen verpuffen.
Die Scham also kann immer und überall und auf alles angewendet werden, weshalb man immer eine Lücke findet, wo man etwas rein tun kann – was man dann auch verbessern muss und kaufen kann.
Ich nehme mich als Beauty Educator als Beispiel: Würde ich Frauen ordentlich beschämen, dass sie ungeschminkt und scheiße aussehend durch die Welt laufen, würde ich ihnen schön viele Dinge verkaufen können. Das macht L’Oréal so und das macht jede Verkäuferin, die mit anzüglichen Blick in der Umkleide oder bereits beim Betreten des Geschäftes dich in deine Schranken weist. Das funktioniert besonders gut in Geschäften und Preisspektren, die völlig ungerechtfertigt sind, denn dort kauft man emotionale Werte, und keine sachlichen, weshalb die Klaviatur der Emotionen auch entsprechend bespielt werden muss.
Was ich allerdings im Sinne der Schamlosigkeit versuche zu verkaufen ist: Sei schamlos ob Deiner Sichtbarkeit, ob Deines Vergnügens, eitel zu sein, ob Deiner Liebe zu schönen Dingen und zu Dir selbst. Denn diese Liebe taugt ja NICHT nur etwas, wenn Du das für andere bist. NOPE!
Sei schamlos darin, genau so nicht schön, geschminkt oder gebotoxt zu sein. Nicht in einer Partnerschaft zu sein. Nicht kaufen zu wollen. Fuck it, die Scham entsteht nämlich immer durch andere, und nicht wirklich durch Dich selbst.
Ignoriere die Welt, soweit da notwendig, riet frau mir, und sei nur dort und denen gegenüber aufmerksam, wo es für Dich richtig und gut ist.
Sei schamlos und geh auf der Mitte des Bürgersteigs. Es heißt nicht, sei rücksichtslos und trampele andere Menschen um (außer es handelt sich dabei um Männer™).
Sei schamlos in der Ehrlichkeit Dir gegenüber.
Sei schamlos in Deiner Wertschätzung Dir selbst gegenüber.
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Weitere Lektüre
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kolumne-von-hanna-lakomy-ich-habe-freier-die-mich-von-meinem-job-erloesen-wollen-li.332764Die Schamlosigkeit der Sexarbeit
ENGLISCH:
https://www.feministgiant.com/p/essay-avenge-your-silenceDie Schamlosigekit des Daseins, des Schreibens, des Tabubruchs
Die Scham von Annie Ernaux, erschienen bei Suhrkamp, da geht es um Klassenzugehörigkeit
Wertschätzung zeigen:
P A Y P A L M E