Es ging eigentlich gut los…
…und dann: Selbstständigkeit, Stalker, Kriegsbeginn, Tod meines Vaters, Scheidung, Aufgabe der Dissertation, Coronaerkrankung, Gerichtsverfahren, Kurztrips, Inflation, neuer Partner, Depression.
Und so brach die mühsam in der ersten Jahreshälfte aufgebaute Struktur ausgerechnet an meinem Geburtstag zusammen.
Was an jenem Tag geschah (Niederschrift vom Abend):
Gehe 10.30 los. Corona-Test. Zug. Zug später, voll, dann Überraschung: Die S-Bahn in halb Hamburg fährt nicht. Das Viertel, wo ich hin muss, ist regelrecht abgeschnitten. Panik. Renne weinend aus der S-Bahn raus, ich bin einigermaßen ortskundig, obwohl ich jetzt fast 30 Jahre nicht mehr in der Gegend war! Draußen steht ein Polizeiwagen, die Sonne brennt, ein Ersatzbus steht schon da, hinten die ersten Taxen. Ein Taxi mit einer Münchnerin geteilt und jetzt warte ich in diesem verschissenen Krankenhaus. Die Münchnerin musste in ein Meeting mitten in der Innenstadt. Sie hatte mir das Taxi eig. schon überlassen, ich nehme sie trotzdem mit. Wir unterhalten uns, ich weine permanent, das Taxi setzt mich vor dem Krankenhaus ab.
Besuchszeit ist eigentlich nicht. Vor der Anmeldung liegt ein Glückscent. Die Frau dort ist sehr nett, ich bin sichtlich verweint, verschwitzt und verstört. Ich warte immer noch. Soll mir Essen holen. Esse ein Eis in der leeren Cafeteria, ich habe eigentlich Angst die Maske abzunehmen. Auf der Station ist niemand erreichbar. Vielleicht hätte ich Zuhause bleiben sollen. Oder früher los. Ich fühle mich schuldig, für das Wetter, für meine Vorfreude auf den Geburtstag, für die Uhrzeit, für mein Bedürfnis, gut auszusehen (habe ein Shirt zum Wechseln eingepackt).
Aus dem Café kann ich aufs Gebäude der Geriatrie blicken. Ich bin unendlich müde.
Auf der Station ist niemand erreichbar. Ein Notfall? Pause? Unterbesetzt ist das Krankenhaus eh. Ich warte immer noch. Könnte mich reinschleichen, aber ich habe Angst dahin zu gehen. Ich warte. Die Turnschuhe drücken. Ich stehe und zapple und stehe. Die Tür am Eingang quietscht sehr unangenehm. Noch 28 Minuten.
Wie festgeklebt warte ich vor der Anmeldung.
Darf endlich hoch, verpasse den Aufzug, mit dem man ins andere Gebäude kann. Beschissen ausgeschildert eh.
An dem Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich erwische endlich den Arzt, er sagt: “Wir wissen auch nicht, warum Ihr Vater noch lebt.”
Der weltbeste Ex und die Kinder holen mich am Abend ab, und es gibt zum Abendbrot eine Tiefkühlpizza und eine Hermès Schachtel.
Mein Vater sollte noch leben, kommt allerdings als Pflegefall ins Altersheim.
Er stirbt in Dezember an einer Corona Infektion.
Ich habe dank Impfungen meine Corona Infektion überlebt, es bleiben aber die üblichen Schäden zurück. Aussetzer, Müdigkeit, der ehemals durchtrainierte Körper ist schrott, an Sport und Struktur ist nicht mehr zu denken. Ich fange wieder an zu daten, um mich abzulenken. Der letzte auf der Liste ist kein Date, sondern nur jemand, mit dem ich sofort einen guten Draht habe und irre lange telefoniere. Er kommt spontan vorbei, ich mache die Tür auf, der Rest ist Geschichte. Doch jetzt, wo ich innerlich entspanne, bricht alles über meinen Kopf zusammen, die Trauer, die krassen Jahre der Pandemie, die immer noch andauert und einschränkt; das Gefühl, keine Perspektive zu haben und nicht zu wissen, wer ich bin. Das Essen schmeckt mir nicht. Ich bin immer müde.
Sehr spontan rufe ich meine Psychologin an und ergattere einen Termin. Nach einem wirren Gespräch muss ich feststellen, dass eigentlich alles gut ist, mir aber die Sache mit meinem Vater den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Eine Migrationsgeschichte, die leider nicht dem Kapitalismus dienen kann mit einer “JedeR kann es schaffen, man muss sich nur genug anstrengen!” Story. Nein, unsere Familiengeschichte ist wie aus einem Dostojewski Roman, aus dem aber sehr viele Seiten fehlen, in welchem man sehr viele blinde Stellen hat; das Buch aufzuschreiben hieße, zurück zu gehen und zu recherchieren, aber ich will das Buch nicht lesen.
Meine Kinder wachsen wie Unkraut und ich bin selbst befremdet, wie unterschiedlich ihr Leben von meinem ist. Wie sehr eine einzelne Entscheidung, nämlich diejenige auszuwandern, so viele Leben beeinflusst hat.
Das Bild oben entstand übrigens spontan auf dem Weg in die Dusche. Ein Schnappschuss, den ich, wie sonst auch, sehr kritisch betrachtete: Das kann ich nicht hochladen! Und lud es dann doch hoch, jagte ein Schwarz-Weiß Filter drüber, und zuckte mit den Schultern: Was soll’s.
Und mittlerweile denke ich immer öfter: Was soll’s.
Was soll’s, 2022. Was soll’s.
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P A Y P A L M E