Ich muß was ganz schlimmes beichten: Ich bin satt.
Der Wissenschaftler und vor allem Mensch Niko Paech hielt jüngst einen Vortrag an meiner Broterwerbsstätte, wo ich sogar bezahlterweise teilnehmen konnte, sprich im Rahmen meiner Arbeit. Und dieser Vortrag ist gerade dabei, grundlegend mein Leben zu verändern. Natürlich war der Vortrag ein Katalysator oder sagen wir mal ein Spiegel, in dem ich sah auf welchem Weg ich mich gerade befinde, aber diesen letzten Tropfen brauchte es, um das Faß zum überlaufen zu bringen.
Er nennt es Konsumverstopfung, ein Kampfbegriff, der sicherlich ausschließlich in unserem Breitengraden anzutreffen ist.
Ich bitte Euch, sich den Niko Paech selbst und in Farbe anzusehen – im Verein, in Schulen, in Firmen; er geht durch’s Land und verbreitet die Botschaft. Ihr könnt ihn zu Euch einladen, bis auf Reisekosten macht er das, um zu ändern. Selten so eine galubwürdige Person erlebt.
Was er erzählt? Ein Interview mit ihm in der Süddeutschen fasst es gut zusammen:
http://www.sueddeutsche.de/wissen/oekonomie-und-oekologie-gruenes-wachstum-gibt-es-nicht-1.1865075
Weniger konsumieren, mehr Zeit haben. Weniger Wachstum, weniger “mehr ist mehr”. Natürlich gilt das ausschließlich für eine bestimmte Bevölkerung(sschicht) und diese kann sich nun mal glücklich schätzen, dazu zu gehören, trägt aber die Verantwortung und auch die Möglichkeit als kulturelle Avantgarde zu agieren und somit als nachahmenswert zu erscheinen. So ändert man die Welt. Man ändert sich selbst und ist ein Vorbild.
Ein genügsames Vorbild. Ein Social Change Agent.
Und jemand, der lernt zu priorisieren.
Die Frage lautet: Brauche ich das?
Die Antwort lautet bei mir natürlich fast immer nein, aber ich will. Ich habe Bock. Es ist viel spannender, Lösungen zu finden statt sich neuen Probleme zu stellen, um den alten zu entkommen. Oder, einfacher, etwas was man hat schon zu benutzen, statt etwas neues zu kaufen, nur weil es – nun ja, neu ist?!
Suffizienz.
Ich lebe ein ganz bisschen anders als meine Umgebung. Und ich hatte manchmal Mühe, mit den Nachfragen umzugehen – jetzt sage ich einfach: Suffizienz. Und damit mehr Geld oder Zeit oder beides, für etwas, was mir persönlich wichtig ist.
Also probierte ich es aus (gleich vorweg: Ich habe am Ende des Tages echt viel Geld ausgegeben, aber für etwas, was ich tatsächlich noch nicht habe und von meiner Liste streichen kann).
Im Alltag ist es am einfachsten – krame frau ihre alten Sachen aus; die alte Jacke ist nach wie vor Jacke, und man kann sie tragen. ODER?
Der rote Lippenstift – ach, ich habe derer 6 Untertöne, viel geht nicht mehr, ich nehme einfach einen, den ich schon länger nicht verwendet habe und stelle fest, er ist perfekt.
Noch ein bisschen Spielzeug? Nö.
Noch ein Shampoo? Nö.
Noch eine neue Dose irgendwas anderes? Nö.
Suffizienz. Das heißt nicht Verzicht, sondern Fokussierung in erster Linie. Und leider auch, und das ist sicherlich für viele schwer und häßlich, die Frage ob man glücklich und zufrieden ist. Sich mit sich selbst beschäftigen (pfui). Die Zeit nicht mit Konsum totschlagen, auch nicht mit Freizeitkonsum, wie Partys und Reisen (Spaß sollte man trotzdem haben, nur etwas bewußter und entschleunigter und auch weniger konsumatorisch, zum Beispiel einfach mehr vögeln oder, für Eltern, schlafen.).
Das Glück fördert dieser Fast-Verzicht ja nun nicht augenblicklich zutage, die Zufriedenheit erst recht nicht. Es braucht eine Zeit. Doch ein bisschen entlastet von der Jagd nach Dingen und der Flucht vor sich selbst, ist man der Konfrontation mit sich selbst auf einmal gewachsen.
Selbst ich, die einen ausgeprägten Hang zu Dingen hat, und ich meine die Art von Geldanlage, die Carrie Bradshahw in Sex and the City so schön predigte: “Am liebsten habe ich mein Geld dort, wo ich es sehen kann – hängend in meinem Kleiderschrank!“, selbst ich kann sagen, dass ich an dem Punkt gelang bin, wo mich eine äußerst merkwürdige Konsumverstopfung ereilt hat. Merkwürdig, weil sie sich eingeschlichen hat, weil sie gar nicht so schlimm ist, und weil sie damit einhergeht zu wissen, was man alles hat. Nicht was einem fehlt – und diese Sichtänderung bringt doch alles gehörig durcheinander.
Und Suffizienz im Laden zu stöhnen ist noch geiler, als zu shoppen.
Im Ernst – ich habe mich einfach mal gefragt, was ich gerade tue. Ich arbeite, habe Geld, aber irgendwie wachsen die Ansprüche mehr als das Guthaben; Zeit es auszugeben habe ich nicht, und ob die Schuhe 200 oder 400 oder 600 Euro kosten, es bleibt eben dabei, ein paar Schuhe mehr in den Schrank zu stopfen. Weil, ich habe ja schon Schuhe. Ich habe Schuhe, die sind kaputt und passen nicht mehr, okay, die können ersetzt werden, aber neue Schuhe zu kaufen weil ich die anderen schon länger/so lange/schon so lange/viel zu lange/ habe? Ähm.
Als Mutter kommt noch etwas hinzu – das Kind mit Sachen vollstopfen. Ich kaufe gerne Bücher und Spielzeug, ist auch für mich irgendwo, aber wieviel Lego und wieviel Auto braucht’s, wenn man das Kind eh nur ein paar Stunden am Tag sieht? Wenig, und dann ist es ein Besen oder ein alter Küchentopf, Kastanien und ein Schneebesen und die Bereitschaft, Quatsch zu machen. Suffizienz heißt also nicht auf Spielzeug zu verzichten, sondern zu merken, wann es reicht.
Puh.
Ist echt einfach. Suffizienz. Am Ende eines Monats hatte ich dann so viel Kohle über, das ich mir einen alten Traum erfüllt habe. Konsum, ja.
Gleichzeitig konnte ich mich auf etwas konzentrieren, was mir wirklich am Herzen liegt: Denken. Man nennt das im Gebrauchsdeutsch forschen oder untersuchen, ich nenne es denken und es ist die höchste Form von Luxus. Natürlich muss dieses den Lebensunterhalt absichern, und ist sicherlich keine Absolution für die Verhältnisse von Wissenschaftler_Innen in diesem unseren Lande – denken, um den Lebensunterhalt zu verdienen, darf im Bildungssegment kein Luxus sein! – doch denken an und für sich ist der höchste Grad von Freiheit, und das ist schon ganz schön sexy. Ironsicherweise häufig etwas, was einem Geld kauft. Oder aber, was man durch den Verzicht/Einschränkung auf Geld(-verdienen und -ausgeben) auch halbwegs erreichen kann.
Ich wiederhole: Das gilt nur für bestimmte Schichten, für bestimmte Einkommensklassen, bla bla bla. Es gilt immer noch auch am stärksten für Männer; Frauen müssen diesen Zustand ironischerweise stets erarbeiten oder sie entscheiden sich aus struktureller Notwendigkeit dafür (schlechte/keine Kinderbetreuung, niedriges Gehalt, ein Partner, der sich beim Putzen aus dem Staub macht).
Suffizienz. Ich habe sie mir erarbeitet. Genauso wie die Konsumverstopfung. Ist das geil, oder was?
Und was mache ich jetzt? Ich verrate es Euch.
Denken. […jetzt wirklich, einfach denken, ohne Ironie und Zweideutigkeiten, schreiben, untersuchen, forschen, hinterfragen, argumentieren, denken halt… ]
Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel! Er spricht mir aus der Seele.
Fein. Meike Winnemuth hat das mal ähnlich thematisiert in einem Artikel zur Grundfrage “Wieso ist es so toll etwas neues zu kaufen, wenn das alte noch nicht alle ist?” (http://www.stern.de/panorama/stern-kolumne-winnemuth-endlich-alles-weg-2077301.html) Sie hat dann den Selbsttest mit Lebensmitteln gemacht und ich fühlte mich ertappt. Der Vorratsschrank ist VOLL und ich denke “Hm, nix zu beißen da”. Die Wahrheit lautet oft aber eher “Zu faul mir etwas damit auszudenken, lieber altbewährtes machen und wenn ich dafür eine volle neue Tüte einkaufen muss”. Dementsprechend besitze ich mehrere angebrochene Nudelpackungen (Spätzle, Glasnudeln, Spaghetti, Spirelli). Irrsinn, oder?
Berit: Bei Lebensmitteln bin ich allerdings auch eher der Vorratstyp – aber da ist es auch ein wenig besser geworden. Ich versuche aufzubrauchen; allerdings werden die acht angebrochenen Packungen Reis und Nudeln nie weg sein. Das ist die Abwechselung, die ich beim Kochen brauche. Das Zeug geht hier bei drei Fresssäcken ja gut weg…
andreea kürzlich veröffentlicht..Die x-te Ode an Dr. Hauschka
klasse. und: GENAU!!einself1!
für mich ist es schön zu lesen, dass es nicht nur mir so geht mit der übersättigung und dem daraus resultierenden stopp. es macht mir mein leben deutlich angenehmer. und führt immer öfter dazu, dass ich im laden wirklich sage, nö, ich hab schon … ähm … *hust* mehrere superschicke kleine schwarze im schrank, da brauch ich nicht die x-te variation zum thema. im lieblings-klamottenladen ist die versuchung schon immer noch groß genug, und ich gebe ihr auch nach wie vor ganz gern nach. aber eben: bewusst.
bei den meisten anderen sachen dito. kosmetik kaufe ich wirklich nur noch dann, wenn irgendwas alle geworden ist (oder bald wird) oder mir wirklich was bestimmtes fehlt.
das macht auch die umgebung aufgeräumter, weil ich nicht mehr hundertdrölfzig sachen verräumen muss. klasse 😀
mein derzeitiges projekt ist nun, meinem lieben mann das ebenfalls bei- und nahezubringen. er ist nämlich ein begeisterter einkäufer-zum-frustabbau-oder-als-selbstbelohnung.
Hallo,
toller, spannender Artikel. Beispiel Konsum: Ich war bis Mitte 20 fast 30 auch so, dass ich fast jeder neuer Foundation , die auf dem Markt kam nachlief. Ich kaufte zwar nicht alle, aber viele und was soll ich sagen? Im Endeffekt sind diese auch nicht besser als Drogerie-Ware. Ebenso die teuren Gesichtscremes und Augencremes. Jetzt als bald 35 jährige kann ich sagen, ich habe einen Mittelweg gefunden.
Ich muss nicht alles haben.
Ich brauche auch das ganze Zeugs nicht, für was? Klar möchte man mal Neuerungen im Kleiderschrank, aber ich brauche nicht zig selbe Shirts oder Schuhe. Kaufen und solange tragen, bis es kaputt ist.
Ich konnte meinen Konsumverzicht während meiner Karenz üben 🙂
Alte Kleidung wurde aufgetragen, Kosmetik verbraucht. Mein Bestand ist jetzt wirklich minimiert. Und dafür habe ich mir heuer wieder Neues gegönnt und sehr darüber gefreut. Ja , auch Shopping ist mal was Feines.
Bei Kinderspielzeug bin ich auch der Meinung sie müssen nicht alles haben. Wir borgen zb die Bücher aus der Bücherei aus. Macht viel mehr Spaß, als immer die selben zu Hause zu haben.
word.
dass einem die eigene unbewusstheit von 3. vor augen geführt werden muss tztztz–>
http://www.gesundheitlicheaufklaerung.de/shopping-kultur-die-erziehung-zum-pervertierten-konsum
Eckhart tolle nennt es identitätsverstärker
https://www.youtube.com/watch?v=rfyYbZkHlRE
https://www.youtube.com/watch?v=zU0e1hn-QKg
https://www.youtube.com/watch?v=4TaVoMIe_t0
Danke für diesen wunderbaren Post Andrea.
Ich beschäftige mich schon lange damit, stelle mir sehr ähnliche, wenn nicht sogar die selben Fragen.
Meine Umgebung ist von je her, ich nenne es mal ökonomisch veranlagt. Es musste immer praktisch und günstig sein. Mode? Nö! Freude an schönen Dingen? Nö! Zu viel von etwas haben? Obszön! Da stach ich schon immer heraus und musste mich schon immer Fragen lassen warum ich immer zu viel von allem wollte. Wer braucht 100 Nagellacke und drölf Lippenstifte der selben Farbe? Ich habe Freude an diesen Dingen, satt macht es mich nicht. Es füllte auch nicht die Leere, die eine gewisse Unzufriedenheit in mir schaffte. Einen gesunden Maßstab zu finden war für mich immer schon schwer. Ich habe mir aber vorgenommen dran zu arbeiten. Danke also für diesen genialen Text, den ich mir ausgedruckt in meine Schminkschublade gelegt habe 😉
Christina Dingens kürzlich veröffentlicht..Ein modischer Vokuhila?!
Ich hab den Beitrag jetzt mehrmals gelesen und sogar mehrere Tage darüber nachgedacht, aber ich komme nicht umhin zu gestehen – in dieser Weise satt bin ich nicht. Nicht was Konsum betrifft.
Ich kenne zwar verschiedene Gefühle von “nicht mehr Mehr Wollen”, das hat dann aber immer andere Hintergründe. Der Hauptaspekt in meinem Leben: persönliches Glück. Von materiellen Dingen abgesehen gibt es schier Nichts, das ich mir mehr wünschen könnte. Klar, ich hab emotionale Altlasten und stoße intellektuell immer wieder an Grenzen – aber wirklich dominant ist beides in meinem Leben nicht. Ich hab eine Beziehung die so gut ist, daß es mir manchmal schon fast Angst macht, und ich hab keinerlei materielle Sorgen. Was das betrifft kann also auch ich sagen, ja ich bin satt.
Aber Dein Beitrag zielte ja eben gerade nicht darauf, sondern auf den materiellen Überflußaspekt ab. Und da muß ich einfach feststellen – ich bin nicht satt! Wenn ich meinen Konsum einschränke, dann sind Gründe wie fehlender Platz oder eben ganz klassisch fehlendes Geld entscheidend dafür. Zwar verkenne ich absolut nicht wie privilegiert ich allein schon damit bin, daß es mir an nichts Notwendigem fehlt und ich mir sogar vielerlei Luxus leisten kann. Dessen bin ich mir absolut bewußt und ich bin dafür auch täglich dankbar! Das ändert aber nichts daran, daß es viele Dinge gibt, die ich darüberhinaus noch gerne haben würde. Manche eher so periphär, Andere reizen mich schon sehr, sehr, sehr!
Wäre ich freier, wenn ich diese Dränge nicht mehr hätte? Ja, wohl schon. Das ist für mich persönlich aber lediglich eine akademische Überlegung, denn mich von einem Konsumterror in irgendeiner Weise beschwert unfrei zu fühlen ist kein Gefühl das ich selber kenne oder auch nur authentisch nachfühlen könnte. Trotz und im Angesicht meines Konsums bin ich nämlich nicht unglücklich, nicht undankbar, nicht unfokussiert oder krankhaft beschleuningt! Auch alle erfüllten und noch offenen, alle erfüllbaren und unerfüllbaren Wünsche eingeschlossen ist mein Leben insgesamt von großer Zufriedenheit und Fröhlichkeit geprägt, und ja, meist auch von Leichtigkeit! Ich fühle mich von meinem Konsum viel mehr beflügelt als beschwert.
Mit all dem kann ich nur resümmieren, nein ich empfinde und praktiziere keine Suffizienz. Und da Suffizienz also einen Unterschied darstellen würde zu meinem Leben so wie es jetzt ist, will ich sie offen gestanden auch gar nicht. Allerdings muß ich auch sagen, daß ich von Haus aus nicht dazu neige mir aus Unachtsam- oder Gleichgültigkeit von irgendwas vier oder fünf mehr oder weniger äquivalente Exemplare zu kaufen, und ich schmeiße auch nix weg, nur weil es nicht mehr optimal ist. Ich kaufe was ich noch nicht habe, was ich voraussichtlich auch tatsächlich brauchen kann, brauche es auf, und kaufe dann ggf. neu. Für mich ist das die richtige Herangehensweise. Eine mit der ich mich auch vom zehnten, roten Lippenstift, der sich nur in einer leisen Nuancen von den anderen unterscheidet, nicht beschwert fühle, und auch nicht von der zehnten sauteueren Handtasche, die ich so wenig “gebraucht” hab, wie die neun vor ihr. Seinen Bestand im Auge zu haben und Dinge echt “aufzubrauchen”, ist meiner Meinung nach ganz allgemein eine ziemlich effektive Weise ein Konsumparadies, und keinen Konsumterror zu empfinden.
Paphiopedilum kürzlich veröffentlicht..Menu of the Month 2015/03